Kanadische Pappnasen

Anita Horn Pappnase, Slider

Gastbeitrag von Herbert Bopp

Das erste Mal, dass ich mit dem Pappnasen-Syndrom konfrontiert wurde, war vor 27 Jahren. DIE ZEIT hatte mich damals für eine Reportage in die Subarktis geschickt. In einem Indianerreservat namens Waskaganish sollte ich recherchieren, was die dort lebenden Cree-Indianer so alles mit 225 Millionen Dollar anstellen. Für diese astronomische Summe hatten die Ureinwohner gerade ihre Land- und Wasserrechte an die Regierung der Provinz Québec verkauft – bis heute ein umstrittener Deal.

Fremdwort Umweltschutz

In dem abgelegenen Dorf Waskaganish, mehr als tausend Kilometer nördlich von Montréal, war Umweltschutz ein Fremdwort. Es gibt bis heute keine Straße, die dort hinführt. Das Indianerreservat ist nur mit dem Buschflugzeug zu erreichen. Dass sich ausgerechnet im Norden Kanadas knietiefe Müllberge ansammeln können, hat mich erschüttert. Coladosen, Chipstüten, Zigarettenschachteln. Und, ja, auch damals schon Kaffeebecher aus Plastik und Pappe.

Indianer mit Coffee to go?

Eine junge Indianerin hatte das Coffee-to-go-Konzept nach einem Besuch in Montréal übernommen und sich dabei den großen Reibach erhofft. Im Norden Kanadas herrschte nach dem Millionendeal mit der Regierung von Québec so etwas wie Goldgräberstimmung. „Wie kommt’s“?, wollte ich von dem mit Umweltfragen betrauten Cree-Indianer Wayne River wissen, „dass sich bei euch der Müll türmt, wo doch die Natur um euch herum vom Feinsten ist“? Wayne River hob zu einer Erklärung an, die ich hier nur in Kurzform wiedergeben möchte.

Permafrost und Einwegbecher

Zum einen liegt es am arktischen Klima. Wo Permafrost herrscht, erfüllen herkömmliche Mülldeponien nicht mehr ihren Zweck. Wo die Erde niemals auftaut, kann der Abfall nicht verbuddelt werden. Das leuchtete mir ein. Aber dann sagte Wayne River etwas, über das ich bis dahin nie nachgedacht hatte: Wenn es um die Müllbeseitigung geht, verfährt der Indianer nach dem Prinzip aller Ureinwohner: „Was du der Natur genommen hast, musst du ihr wieder zurück geben“. Eine edle Philosophie. Das Fleisch des erlegten Bären wird gegessen. Der Pelz schützt vor der arktischen Kälte. Das Geweih des erlegten Elches wird zu Backpulver gemahlen. Leider funktioniert diese Art von Recycling heute nicht mehr. Dagegen sprechen die Halbwertzeiten von Plastik und Pappbecher, von Chipstüten und Stanniolpapier.

Monströses Müllaufkommen

Doch die meisten Indianer haben die Uralt-Philosophie so verinnerlicht, dass sie nicht von ihr loslassen wollen. Sie werfen ihre Kaffeebecher weg, als gäbe es kein Morgen. Das mag im Süden Kanadas etwas zivilisierter vonstatten gehen als im Norden. Aber auch hier ist die Entsorgung von Einwegbechern ein Riesenproblem. In einer mittleren Großstadt wie Calgary werden täglich zwischen 800-tausend und einer Million Kaffeebecher weggeworfen. Rund 20 Prozent des gesamten Müllaufkommens setzt sich aus Kaffee- und Cola-Bechern zusammen. Im Zug, in der U-Bahn, bei Sportveranstaltungen und Open-Air-Events – Einwegbecher sind noch immer die Regel, mitgebrachte Trinkflaschen die Ausnahme.

Kanadier umzustimmen, ist kein leichtes Unterfangen. Es wird hier mehr Kaffee getrunken als in den meisten Ländern der Welt. Unter 80 von „Euromonitor“ untersuchten Nationen steht Kanada mit jährlich 152 Liter Kaffee pro Personen erster Stelle. Egal, wie umweltfreundlich sich das zweitgrößte Land der Erde gibt: Die Pappnasen sind noch lange nicht ausgestorben.

#seikeinepappnase

Der Gastautor

Herbert Bopp ist deutscher Journalist aus Ummendorf in Baden-Württemberg, Jahrgang 1949, hat als Korrespondent für die ARD gearbeitet, für diverse internationale Magazine geschrieben, zwei Bücher veröffentlicht, Online-Seminare gegeben und schreibt über sein Leben in Kanada und auf Mallorca tolle Bloghausgeschichten.