Ich fange am Ende an. Am Anfang vom Ende. Hier beginnt das Ende. Das Ende der Welt. Hier ist das Ende Argentiniens und fast das letzte Ende des südamerikanischen Kontinents: Ushuaia. Das Wort kommt aus der Sprache der Ureinwohner Yámana, hieß mal Oshovia und bedeutet „Bucht, die nach Osten blickt“.
Die Entstehung
Die Stadt ist entstanden, weil Argentinier mit Jobangeboten in aus dem Boden gestampften Industrien und höheren Gehältern als auf dem Kontinent gelockt wurden. Vorher gab es hier eigentlich nur das Gefängnis. Die Infrastruktur wuchs mit, Wohngegenden und Supermärkte entstanden, Schulen und Krankenhäuser. Mittlerweile gibt es sogar eine Uni, die aber vor allem für die Region nützliche Fächer wie Meeresbiologie und Geologie. Dennoch gehen viele Studenten eher nach Buenos Aires, Cordoba oder Mendoza. In Ushuaia ist alles recht teuer – jeder Orangensaft wird importiert. Ein Steak kostet hier mit einer Ofenkartoffel im Schnitt 300-350 Pesos, das sind rund 20 Euro. Europäische Preise. So wie das meiste Andere hier auch.
Die Bucht zeigt sich bei Sonnenschein und Windstille so wie der Rest der Stadt von ihrer besten Seite. Seicht und einladend. Aber das ist eher eine Ausnahme. Wer hier ankommt und wie wir mit Regen und Wolkendecke empfangen wird, denkt höchstens noch bei der Landung mit Blick aus dem Flugzeug: wow. Feuerland. Dann landet man auf dem Boden der Tatsachen.
Boden der Tatsachen
Die Taxifahrer reden nicht viel. Sie transportieren einfach das nächste Paar Touristen zu ihrer Unterkunft. Die Straßen sind durchlöchert und der Verkehr ist wild – in eine Straße werden gerne zwei bis vier Spuren interpretiert. Es geht deutlich über der erlaubten Geschwindigkeit vorbei am Hafen und der Schachbrett-geschneiderten Innenstadt. Wobei man hier trotz 60.000 Einwohnern eher von Dorf sprechen darf. Die Atmosphäre ist rau und schroff. Aber das gehört wohl dazu am Ende der Welt.
Unterkünfte
Die Hostels kosten im Schnitt 50 Euro pro Nase im Doppelzimmer und etwas weniger im Mehrbettzimmer. Deshalb haben wir uns für eine private AirBnB-Unterkunft am Waldrand entschieden, 20-30 Minuten Marsch von der Touri-Hauptstraße San Martin entfernt. Dort zahlen wir etwa 30 Euro pro Person und Nacht, haben aber ein eigenes Zimmer und hausgemachtes Frühstück inklusive. Frühstück bedeutet in Argentinien meist ein Muffin oder ein Croissant (Medialuna), Tee oder (oft plörriger) Kaffee und vielleicht mal ein Toast mit Käse und Schinken.
Barrierefrei geht anders
Rucksack auspacken, uns einpacken. Kalt ist es am Ende der Welt. Beim Standardwetter zumindest. Kalter Wind schwingt sich durch jede Jackenlücke. Entlang zerklüfteter Bürgersteige, die keine sind – viel mehr handelt es sich um platt gewalzte Kieselwege mit ein bisschen verschüttetem Beton, wenn der gerade was übrig war. Den Rest haben die Witterungen übernommen. Tiefe Regenlöcher, aufgeplatzte Asphaltstücke, abgeschnittene Rohre, die genau dort heraus gucken. Stufen in allen erdenklichen Höhen und Breiten und geometrisch kunstvolle Absätze wo man sie am wenigsten erwartet. Barrierefrei ist das Ende der Welt auf jeden Fall nicht.
Argentinische Eigenheiten
Die nächste Faszination: verrottete und verrottende Autos in offenen Carports und Vorgärten – zumindest im Stadtteil oberhalb des Schachbretts. Dieses Rätsel konnten wir mittlerweile lösen: die Einheimischen kamen einst mit alten Autos hier her, verdienten dann besser und kauften sich was Neues. Da Ushuaia auf der Insel „Isla Grande“ des Gebiets Feuerland liegt und es hier keinen Schrottplatz gibt, gibt es zwei Möglichkeiten: man versenkt das Auto im Meer (damals durchaus passiert) oder wartet auf das einmal jährlich geschickte Schiff vom Staat. Die Autos werden eingesammelt, gepresst und abtransportiert. Einige bleiben aber einfach stehen und sind „in Reparatur“ oder werden zu wilden Blumenbeeten.
Straßenkunst
Echte Kunst gibt es auf den Straßen Ushuaias aber auch, unter anderem Dank des Projekts namens „Ruta de Murales“. Ein Künstler zieht hierfür durch ganz Argentinien, holt sich Maler und Nicht-Maler dazu, die Lust haben die Kunst der Graffitis zu lernen und ihre Stadt zu verschönern. Von der Stadt freigegebene Mauern werden so innerhalb von ein, zwei Tagen zu echten Hinguckern.
Ruta de Murales: www.facebook.com/rutademurales/
Navigation
Unten am Hafen ist die Touristen-Info. Wer sie per Adresse Prefectura Naval 470 sucht: lasst euch nicht von Google Maps aufs Eis führen. In Argentinien stimmt die Navigation so gut wie nie. Seitenstraßen sind anders benannt oder existieren gar nicht und die Nummern haben weder im Straßennetz noch im Internet Sinn (in Buenos Aires kommen die Nummern 611, 612 und 613 auf einer Seite, gefolgt von 640 und 601). Nehmt euch eine Straßenkarte oder gedruckte Skizze der Stadt mit und versucht niemals Entfernungen zu schätzen (oder packt immer mindestens 30min drauf).
Ausflüge ab Ushuaia
Direkt am Wasser sind mehrere Holzhütten von Tour-Anbietern. Für 50-100 Euro kann man mit dem Boot auf die vorgelagerten Steininseln fahren und Pinguine, Seelöwen und Kormorane entdecken. Damit wäre man dann auf dem Beagle-Kanal gewesen. Viele setzen mit dem Schiff über nach Puerto Williams, zwei Stunden quer über denKanal. Diese Stadt gehört zu Chile und ist die wirkliche südlichste Stadt der Welt. Bewohner – zumindest auf Zeit – gibt es allerdings auch auf der Insel des Kap Horn (eine Familie, die den Schiffsverkehr dort registriert) und in der Antarktis. Viele Agenturen sagen, man müsse zwei Nächte dort verbringen und nehmen pro Person und Strecke etwa 120 US-Dollar oder mehr. Wenn man sich durchfragt, findet man aber vereinzelt auch die Möglichkeit an einem Tag hin und zurück zu fahren (z.B.mit Rumbo Sur, ca.6000 Pesos pro Person). Ob sich der Ausflug lohnt kann ich nicht sagen. Wir haben verzichtet.
Kap Horn
Man kann auch für 1200-2500 Euro pro Person mit einem großen Schiff oder wahlweise Segelboot zum Kap Horn – der letzten Insel vor der Antarktis. Meinem Nachnamen Horn geschuldet wollte ich schon immer dort hin, aber für den Preis habe ich mich dagegen entschieden. Nicht nur finanziell, sondern auch weil im November/ Dezember der Wind so stark ist, draußen auf dem offenen Meer, dass ich diesen Preis nicht zahlen wollte. Wellen von bis zu zwölf Metern sind hier normal. Kein ungefährliches Unterfangen, erzählt mir Kapitän Uke, der im Häuschen des Club Nautico sitzt. Er fährt nächste Woche mit zwei Touristen raus.
Wir machen lieber was Unheikles, mieten ein Auto für rund 1250 Pesos (unbedingt in bar zahlen, dann ist es 20 Prozent günstiger als mit Kreditkarte) inklusive 200 Kilometer (man muss nur wieder volltanken am Ende) und fahren in den Nationalpark Tierra del Fuego etwa zwölf Kilometer über die Buckelpisten raus aus Ushuaia.
Nationalpark Tierra del Fuego
Es gibt auch Busse, die für 400 Pesos hin und zurück (ida y vuelta) bis zum Eingang des Parks fahren und als letzte Möglichkeit um 16.45 Uhr dort wieder Richtung Zentrum zurück fahren (statt wie auf den Handzetteln angegeben um 17 Uhr), allerdings wollen wir die Ruta No.3 bis zum Ende durchfahren, die man sonst laufen müsste.
Also zahlen wir 130 Pesos Eintritt pro Person (eigentlich sind es für Nicht-Argentinier 210 Pesos, aber irgendwie haben wir einen Rabatt bekommen), fahren 20 Minuten weiter entlang der Schneise durch den dichten Wald – der im Herbst übrigens in den feuerlichsten Farben rot, orange, kupfer, gold und gelb erleuchtet.
Ende der Ruta No.3
Leider sind wir nicht in den Genuss gekommen und haben hier und da lediglich einen Blick auf einen Wasserlauf, eine Lagune und den ein oder anderen Vogel werfen können. Ab und zu haben wir einen Omnibus voller Besucher überholt und dann waren wir am Ende der letzten Straße Argentiniens. Recht unspektakulär. Aber wir waren da. Von dort beginnt ein kleiner Wanderweg, etwa 30min pro Richtung, an das letzte Stück begehbares Ufer der Isla Grande an der Beagle-Küste. Die Waldhänge sind voller Papageien und der Boden ist übersät mit Muscheln. Kaum eine Menschenseele ist hier. Dazu passt sogar raues Wetter.
Wandern im Park
Auf dem Rückweg begehen dutzende Menschen im Pulk die Aussichtspunkte auf den Stegen. Zeit für uns zu flüchten. Rein ins Auto, raus aus dem Park. Es gibt noch zwei Wandertrails (einmal das „V“ an der Küste, ca.4std eine Strecke, die man morgens beginnen sollte, um zurück auf der Hauptstraße den Bus zu erwischen, der zwischen 14-15h zurück zum Eingang fährt. Unbedingt nochmal am Eingang nachfragen!) und den Bergtrail mit ein paar Höhenmetern, der aber eher keine Herausforderung für eingefleischte Wanderer sein dürfte.
Isla Grande mit dem Auto
Im Anschluss fahren wir die N3 in die einzige andere Richtung gen Telhuin. Von Rio Grande, einer größeren Hafenstadt im Nordosten, wurde uns mehrfach abgeraten. Unser Ziel: der Lago Fagnano. Wir fahren 75km zwischen den Bergen entlang. Viel nichts. Ich werde müde. Serpentinen. Wenig anderer Verkehr. Kein Radioempfang. Ein Straßenrestaurant. Wir trinken Kaffee aus Teebeuteln (bekommt man hier auch auf den Nachtbusfahrten, keine Offenbarung aber trinkbar), werden dabei eingedampft von frischem Kaminqualm und überlauten Trash-Nachrichten im Fernsehen, zahlen und lassen die letzten zehn Kilometer zum See ausfallen. Wir fahren zurück. Geben das Auto ab und fallen wieder ein ins gegenüber liegende Café Ramos Generales.
Café Ramos Generales
Dieses Café war einmal ein Wohnhaus und ist jetzt eine Mischung aus Café und Museum. Sehr gemütlich. Touristen-Knotenpunkt im positiven Sinne. Hier haben wir andere Reisende wiedergetroffen. Unter anderem ein Paar, das mit uns im selben Flieger nach Ushuaia saß. Andrea und Stefan haben sich eine Kreuzfahrt zum Kap Horn gegönnt… Sobald die zwei mir berichten, ergänze ich den Ushuaia-Blog um deren Erlebnisse.
Haus aus Plastikflaschen „Nave Tierra“
Am nächsten Tag besuchen wir den Hafen und das „Nave Tierra„, ein Haus am Stadteingang, gebaut aus recycelten Stoffen, 3000 Glas- und mehreren hundert Plastikflasche, mit Solarzellen, einem Regensammelbecken auf dem Dach mit Ableitung in Stein gefüllte Tonnen zur Filterung, Gewächshaus und Treppen aus alten Autoreifen:
Apropos Umweltprojekt: liebe Argentinier, wieso lasst ihr eigentlich immer die Motoren eurer Autos laufen? Egal ob am Flughafen oder in der Stadt, kurz oder lang, das Ende der Welt hat etwas weniger Abgase verdient. Seit 2011 gibt es in Ushuaia ein Verbot von Plastiktüten. Super! Wer im Supermarkt einkauft, sollte demnach übrigens mitdenken und eine Stofftasche bei sich haben. Amigos, macht dieses gute Vorhaben doch nicht wieder durch laufende Motoren kaputt!
Museum Maritimo – das Gefängnismuseum
Der Nachmittag brachte uns in den Knast. Das Gefängnismuseum von Ushuaia ist berühmt-berüchtigt. Der Eintritt kostet 300 Pesos pro Person und dient komplett der Erhaltung des Gebäudes und der Erforschung des Seegebiets. Fünf Flügel hat das Museum – darunter eine Kunstgalerie, ein historischer, alt belassener Zellentrackt und ein Flur mit begehbaren alten Zellen und tollen Fotodokumentationen zur Geschichte des Museo Naval. Ich bin kein großer Museumsgänger, aber dieses hat mir gut gefallen. http://www.museomaritimo.com/
Gletscher Martial
Der letzte Tag führte uns bei königlichem Wetter hoch zum Gletscher Martial. Während wir wegen meiner hartnäckigen Erkältung mit dem Taxi hoch (aus der Stadt ca.150 Pesos) und per Anhalter wieder runter gefahren sind und nur oben von der zur Zeit nicht aktiven Seilbahnstation bis zum Ausstieg der Seilbahn gelaufen sind (2km pro Richtung), um oben eine wunderbare Aussicht auf die Bucht Ushuaias zu genießen, sind andere Wanderer hoch bis zum Gletscherfuß (ca.eine Stunde hin) und wieder andere sind dort gelaufen. Also gejoggt. Haben trainiert – vermutlich für den Glaciar Martial Run. Am 11.Dezember können Teilnehmer zwischen 10 und 21 Kilometern mit einem knackigen Höhenprofil wählen und den Gletscher im Laufschritte erklimmen.
www.maratonushuaiaextremo.com/es/contenido/ver/5-ruta.html
Wem das nicht extrem genug ist, dem kann ich das Ushuaia Trail Race Fin del Mundo ans Herz legen – am 25.März 2017 geht hier auf 42, 25 oder 13 Kilometern die Post ab.
http://ushuaiatrailrace.com
Longboard am Berg
Manche lassen sich übrigens auch hoch zur Seilbahn fahren und rollen wieder runter, so wie Natan und seine Freundin Maru, auf einem Longboard. Im Liegen, wie bei einer Bobmeisterschaft, nur ohne Eis und ohne Bob, einfach auf der Straße, in voller Montur. Bis zu 80km/h schnell wird man dabei – danach lässt man sich wieder hoch fahren und der Spaß fängt von vorne an.
Wer nach soviel Frischluft eine heiße Schokolade, einen Kaffee oder einen Sieges-Cocktail mag: demnächst öffnet das Hard Rock Café Ushuaia. Coming soon, heißt es Ende November 2016 auf einer Autowerbung.
Ob das der Stadt hilft weiß ich nicht.
Frühling in Ushuaia
Ich bleibe lieber im Ramos Generales, esse Pinguine aus Zucker, überzogen mit Schokolade, trinke Tee mit Honig und gucke auf den Hafen. Heute mit Sonne und blauem Himmel. Bei neun Grad Außentemperatur und keinem Wind flippen die Ushuaios völlig aus. T-Shirt-Wetter, finden sie. Mütze aus, finde ich. Wobei die Kälte hier so trocken ist, dass sie wirklich frühlingshaft wirkt.
Meine Empfehlung
Eins steht fest: Am besten man startet seine Argentinien-Reise in Ushuaia (nach einem Nationalpark wie Los Glaciares ist die Fallhöhe doch etwas groß…) und bleibt entweder nur einen Tag, findet nichts richtig schön und fährt unzufrieden weiter. Oder man bleibt drei Tage, macht eine Bootstour, eine Wanderung am Gletscher und eine Fahrt durch den Nationalpark. Oder – Option III – man bleibt so wie wir mindestens eine Woche, taucht ein in das Leben, lässt sich treiben, macht nicht heute sondern morgen, sieht sich auch die Bereiche außerhalb der Touristen-Magneten an und lässt sich auf die Entschleunigung ein – man muss nur die Phasen „Wut“ und „Langeweile“ überstehen und dann ist man tatsächlich da. Angekommen. Am Ende der Welt.