Tränen und Gänsehaut – das sind normale Begleiter bei Athleten und Zuschauern, wenn der Ironman stattfindet. Wobei, eigentlich gibt es diese Erscheinungen auch schon bei kleineren Distanzen. Das war mir schon lange klar, wenn man sich die Zieleinläufe und die vielen Geschichten der Sportler dahinter anguckt (oder vorstellt). Außerdem habe ich es am eigenen Leib erfahren und bin bereits selbst überglücklich und froh über ein paar Ziellinien gelaufen. Dass ich allerdings auch weine, wenn ich nur davon lese, wie jemand anders das Ziel erreicht, das war mir bisher neu.
Chrissie Wellington ist 36 Jahre alt, kommt aus England und ihre sportlichen Erfolge sind recht einfach zu beschreiben: Ständig Platz 1!
Ironman 70.3 Timberman mehrfach Platz 1. Ironman 70.3 Kansas mehrfach Platz 1. Challange Roth mehrfach Platz 1. Ironman Australia mehrfach Platz 1. Ironman Germany, Korea, Arizona, Hawaii, Platz 1, Platz 1, Platz 1. Wenn jemand richtig abgeräumt hat, dann Chrissie Wellington. Und das, obwohl sie eher zufällig zum Triathlon gekommen ist und nie eine Profikarriere angestrebt hatte.
In der Schule und im Schwimmverein war Chrissie schon immer gut. Sie war ehrgeizig und arbeitete hart. Dass man damit nicht zu den coolen der Schule gehört, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Schnell beschäftigte sich die junge Frau mit sich, ihrem Verhalten und ihrem Äußeren, um cooler zu werden. Das Ergebnis: Alkoholabstinenz, zwanghaftes Ess-Brech-Verhalten, Abmagerung und das ambitionierte Ziel, herausragende Rechtsanwältin zu werden. Nach ihrem Abschluss ging Chrissie dann erst einmal auf Weltreise. Ihr Berufswunsch lautete nun Entwicklungshelferin, sie nahm wieder zu und ging gerne laufen. So gerne, dass sie sich zurück in der Heimat 2002 für den London Marathon anmeldete – immerhin war dieser mit einer Hilfs- und Spendenaktion verbunden und kam Chrissie somit sehr gelegen. Nach dem Zieleinlauf erstaunte Chrissie vor sich selbst: 03:08 Stunden und Platz 38 von fast 8.000 Frauen. Sie meldete sich in einem Laufclub an, wurde fortan trainiert, nutzte ihre Pausen im Job für den Sport und lief beim Brooklyn Halbmarathon als Zweite ins Ziel. Freunde aus Birmingham meinten schließlich zu Chrissie, sie sollte es doch mal mit Triathlon versuchen. Und weil sie immer neue Herausforderungen suchte, kaufte sie sich ein Rennrad und fing an zu trainieren. Schon die ersten Wettbewerbe endeten auch hier auf dem Treppchen.
Einen Ironman ohne Tiefpunkte zu überstehen, ist quasi unmöglich. Man hat viel Zeit zum Nachdenken, auf den langen, zum Teil menschenleeren Strecken. Wieso tue ich das? Komme ich jemals ins Ziel? Was ist das für ein Ziepen im Rücken? Und wo sind die anderen? Das sind nur wenige Fragen, die vermutlich jeder Triathlet kennt. Über ihre Reise zu sich selbst, zum Triathlon-Sport und um die ganze Welt schreibt Chrissie Wellington mit soviel Erinnerung und Emotion, dass selbst Nicht-Sportler vermutlich gepackt werden. Ein langer Aufenthalt in Nepal, Höhenradtouren und das Leben fernab von Luxus und Wohlstand prägten Chrissie Wellingtons Sportkarriere, die allerdings genau wie der Himalaya Höhen und Tiefen hatte. Nicht umsonst wurde sie früher Tollpatsch genannt. Zahlreiche Stürze, Knochenbrüche und sonstige Komplikationen brachten Chrissie und ihren Trainer nicht selten an den Rande der Verzweiflung. Doch die Ausnahmesportlerin kämpfte sich durch. Als Zuschauerin nach ihrem eigenen Start auf der olympischen Distanz beim Züri Triathlon hatte Chrissie Wellington die erste Berührung mit einem Ironman-Wettkampf. Dem Ironman Switzerland. Sie stand begeistert am Streckenrand und wusste, dass sie sowas auch mal machen wollte. Und zwar so sehr, dass sie sich gegen ihren Job und für eine Profikarriere entschied. Es folgten Trainingslager und bittere Erfahrungen des Alleine-Seins, der Rückschläge, der Zweifel, Begegnungen mit Leitplanken und platten Reifen auf Wettkämpfen. Aber Chrissie Wellington wäre nicht Chrissie Wellington, wenn sie nicht auch diese Aufgaben auf ihre eigene Art hätte bestehen können. Ihre erste Langstrecke war durchzogen von Pannen und Schmerzen. Aber das Ergebnis war der Beginn einer noch steileren Karriere:
„Der finale Anstieg lag ja noch vor mir. Dort begann ich einige aus meinem Team zu überholen – Männer wohlgemerkt… Nach 115 Kilometern erreichte ich die zweite Wechselzone und begann den 22-Kilometer-Lauf in 2.200 Meter Höhe… Mein Bein schmerzte nun ziemlich, aber ich hielt durch und konnte das Rennen gewinnen – 29 Minuten vor der nächsten Frau… Wäre ich ohne Reifenschaden und Sturz durchgekommen (…)„
Drei Wochen später startete Chrissie Wellington beim Ironman Korea.
Das Buch ist ein Rennen durch Chrissies Leben. Fünf Jahre lang spielte sie in ihrer eigenen Liga, tauchte auf aus dem Nichts, gewann den Ironman auf Hawaii gleich vier Mal, stellte bei der Challenge Roth 2011 einen Fabelweltrekord auf und beendete schließlich 2012 nach zahlreichen Siegen, einem Rekord für die Ewigkeit in 8:19:13 Stunden und ihrer Autobiographie ihre Karriere als Profisportlerin. Doch die hawaiianischen Conch-Muscheln, die beim Zieleinlauf des dortigen Ironman viermal für Chrissie Wellington geblasen wurden, klingen weiter.Jedes Jahr für einen anderen Sieger.
Obwohl ich noch nie auf Hawaii war, habe ich die Atmosphäre, die Geräuschkulisse und die Bilder genau im Kopf. „Ein Leben ohne Grenzen“ hat mich weggeholt von meinen eigenen Grenzen, meinen Ängsten, wenn ich mal erkältet bin oder das Training nicht so rund läuft. Es hat mir gezeigt, was alles möglich ist, ohne dass man selbst damit rechnet und dass Triathlon das Leben zur Hölle, aber auch zu einem großen Traum machen kann.
Der erste Ironman-Triathlon überhaupt ist übrigens aus einer Schnappsidee entstanden. 1978 stritten sich Sportler auf Hawaii, wer fitter sei: Läufer, Radfahrer oder Schwimmer. Sie kombinierten also drei Veranstaltungen: den Waikiki Roughwater Swim, das Around Oahu Bike Race und den Honululu Marathon und fertig war die größte Qual und das größte Glück für ambitionierte Ausdauersportler.