Ich atme ein. Und wieder aus. Juister Inselluft. Ohne Autoabgase. Pure Kurluft. Die einen platt macht. Frischluft ohne Ende. Jod. Salz. Algen. Warmer Sand. Alles riechbar.

Nichts als frische Luft
Alles wunderbar. Alles Schnee von gestern. Denn leider ist die Zeit auf Juist schon wieder rum. Gestern Nachmittag ging unsere Fähre zurück auf´s Festland. Den Vormittag haben Nadine und ich es uns natürlich noch gut gehen lassen. Einen langen Spaziergang am Strand eingelegt und nochmal die Stille auf uns wirken lassen. Die kaum vorhandene Wasserbewegung beobachtet.
Sonne getankt. Und ich habe die Zeit genutzt, um nochmal Kraft zu sammeln. Positive Energie für Sonntag. Die Vorfreude zu bündeln und den Druck in ein wohliges Einstimmen umzuwandeln. Ich bin nämlich angespannt. Angespannter, als ich es vielleicht zugeben mag. Ich bin aufgeregt und habe eigentlich keinerlei Vorstellung, wie der Sonntag wirklich wird. Wie ich den Lauf verkrafte. Was die letzten zehn Kilometer, die ich im Training nicht absolviert habe, auf mich wirken werden. Werde ich denken, ach komm, einfach weiter, die Zeit ist egal. Einfach ankommen und die Stimmung aufsaugen? Oder werde ich immer verkrampfter, will doch noch unter 4:30h bleiben und schade damit nur mir selbst? Werde ich den Lauf ohne Schwindelanfälle schaffen? Wird es fast schon zu warm, bei diesem goldenen Herbstwetter? Werden die Trinkstationen ausreichen? Schaffe ich zu trinken, ohne alles zu verschütten? Muss ich sogar kurz dabei gehen, oder vergeude ich dann wertvolle Zeit? Packe ich das wirklich?
Einatmen. Ausatmen. Tief Luft holen. Das Wasser beobachten. Ruhig werden. Den Möwen zuhören und dem leisen Meeresrauschen. Die Minibrise Wind um die Nase spüren. Die Beine ausruhen. Ich versuche mir die ganze Zeit einzureden, dass das gar nichts Besonderes ist. Einfach nur 42,195 Kilometer. Bei den 32 Trainings-Kilometern habe ich mich auch nicht so verrückt gemacht. Die lange Trainings- und Wartezeit gibt einem aber auch viel Gelegenheit, viel nachzudenken. Die Gedanken spinnen zu lassen. Sich wahnsinnig verrückt zu machen. Nein, der Marathon muss nicht perfekt werden. Er soll einfach nur eine Etappe sein. Nicht das einzig wahre Ziel. Eine Etappe in meinem Leben. Wir sollen Freunde werden. Die sich einmal begegnen und danach nur noch von weitem grüßen. Sich gut in Erinnerung behalten. Sich schätzen.

Mails und guter Zuspruch
Im Moment trudeln bei mir immer mehr Mails und SMS ein. „Viel Erfolg!“, „Ich denke am Sonntag an Dich!“, „Du schaffst das!“ – und mein Lieblingssatz: „Schmerz geht. Stolz bleibt.“ Ich bin wirklich fasziniert vom Zuspruch und der Aufmerksamkeit. Dass Freunde – auch wenn ich momentan gar nicht so viel mit ihnen zu tun habe – mitfiebern und mir die Daumen drücken. Hinterher wissen möchten, wie es war. Gewesen sein wird. Noch zwei Tage. Zweimal schlafen. Hoffentlich tief und fest und ohne Alpträume.
Seit gestern Abend sind wir nun nicht mehr auf der Insel. Keine Strandläufe mehr. Keine Handstandstunden, die mir lustigen Muskelkater im gesamten Körper veranstalten. Mein Rückenstrecker, meine Achseln, sogar mein Hals, mein Hintern, meine Handgelenke. Keine Schmerzen. Nur leichter Muskelkater. Hoffentlich kann meine Physiotherapeutin heute um die Stellen drum herum massieren, um meine Verspannungen zu lösen. Sonst wird´s fies. Wo kann ich eigentlich in Köln Hand- und Kopfstand üben? Das war spaßig. Das will ich besser können. Auf der Wiese tut das bestimmt mehr weh, wenn man sich unabsichtlich hinlegt. Ich werde mich nächste Woche mal auf die Suche machen. Eine schöne Stelle zum Rumtoben. Man sollte viel mehr toben.

Abschiedstee Waldfrucht-Erdbeere
Gestern stand also kein Training an. Gestern war Ruhe- und Reisetag. Nach einem letzten Tee mit unserer Inseltruppe ging es mit der Fähre von Juist nach Norddeich.
Und dann nach einem letzten Fischmahl mit dem Zug zurück ins Großstadtgetümmel.

Fischfilets, Muscheln und Garnelen in Flusskrebssauce
Köln. Autos. Krach. Dreck. Asphalt. Die Uhrzeit bestimmt den Tag. Nicht der Stand der Sonne oder der Wind. Verrücktes Gefühl. Eine andere Welt. Zeit. Noch zwei Tage. Marathon in 4:30h. Startschuss um 11.30h. Startunterlagen abholen bis dann und dann. Maximale Laufzeit sechs Stunden, danach wird man vom Besenwagen eingesammelt. Zeit. Druck. Zeit. Fenster. Ich brauche frische Luft. Ich glaube ich gehe heute noch einmal locker laufen. Vier, fünf Kilometer, nur um meine Beine beweglich zu halten. Sie nochmal zu kitzeln. Ihnen verbieten mehr zu laufen. Um sich Sonntag kaum noch halten zu können. Wer weniger darf, will mehr. Ich will auch mehr. Meer. Und mehr Zeit. Für alles im Leben. Irgendwie ist das Leben manchmal jetzt schon zu kurz. Man wieso bin ich eigentlich im Moment so sentimental? Und so philosophisch angehaucht? Ich denke über mich und mein Leben nach, über die Welt und den Sinn. Bringt mich ein Marathon da weiter? Denke ich soviel nach, weil ich den Marathon laufe? Oder laufe ich den Marathon, weil ich zur Zeit soviel philosophiere? Ist das alles nur ein Zufall oder Bestimmung oder eh völlig egal? Juckt es eigentlich jemanden, ob ich den Marathon wirklich schaffe? Oder zählt nur der Wille? Dabei sein ist alles? Starten und dann die Sintflut? Geht es wirklich um´s Ankommen? Um´s Zeitziel? Oder um´s Wollen? Um´s Trainieren? Nein, ne ne, nur dabei sein ist es nicht. Vorher aufhören ist auch nicht. Ich will ankommen. Und ich will auch unter fünf Stunden bleiben. Das werde ich ja wohl schaffen, oder? Werde ich doch!?
Werde ich! Heute mache ich dafür den ersten Schritt. Ich hole heute meine Startunterlagen ab und schlendere mit Nadine einmal über die Marathon Expo in der Köln Messe. Wettkampfluft schnuppern. Dann werde ich einen lockeren Lauf hinlegen. Und noch ein bisschen was für meine Kraft tun und morgen ist dann Relaxen angesagt. Völlige Entspannung. Unter extremer Anspannung. Morgen ist der Tag vor dem großen Tag. Morgen ist es nur noch ein Tag bis zum Marathon. Ein einziger Tag. Mein Herz hüpft. Einatmen. Ausatmen. Kölner Marathonluft. Ich kann sie schon riechen. Sie macht mich verrückt. Vor Vorfreude. Ich will jetzt endlich laufen. Den Marathon. Meinen ersten ganzen Marathon. Noch 2,195 Tage. Durchhalten. Durchstarten. Durchatmen!