Noch 22,195 Tage

Anita Horn Mein Marathon

Der After-Workout-Tag ist immer dahin. Jeden zweiten Freitag im Monat bin ich nicht zu gebrauchen. Oder wenn, dann für Kaffeetrink-Verabredungen und ausgiebige Gammelabende auf der Couch. Gestern habe ich beides gekonnt kombiniert. Erst drei ausgiebige Kaffee mit drei verschiedenen Freunden getrunken, wahlweise Vollkorncroissants, Zimtschnecken oder Tandori-Paninis dazu gegessen, von meinem Marathon erzählt und dass das Training echt reinhaut. Dann nochmal zurück gelehnt und mich auch auf den neuesten Stand der Dinge meines Gegenübers gebracht, bis ich mir jedes Mal den Hintern platt gesessen habe und weiterziehen musste.

Abends hab ich mir dann überlegt laufen zu gehen. Aber es hat sich ein Freund angekündigt, den ich ewig nicht gesehen habe. Ich kann ja nicht immer meinen Trainingsplan vorschieben. Außerdem war die Entscheidung lieber gemütlich etwas essen zu gehen wirklich gut. Denn der Freund ist vor zwei Jahren selbst seinen ersten Marathon gelaufen. In Köln. Habe ihn zufällig ins Ziel kommen sehen. Eigentlich habe ich auf zwei andere Läufer gewartet. Verrückter Zufall, zwischen so vielen tausend Leuten.

Auf jeden Fall hatte er noch ein paar gute Tipps auf Lager, die ich vor dem eventuellen Echt-Einsatz erstmal antesten werde. Erstens Redbull. Zweitens so komische, Marshmellow-ähnliche Snacks, die bei Krämpfen und purer Erschöpfung neue Kraft geben. Dann Vaseline für die Haut, damit die Laufsachen nicht scheuern. Und ich soll mir schon vor dem Start Latschenkiefer oder ein anderes ätherisches Öl auf die Waden, Knie und Oberschenkel schmieren – am besten so eins, von dem ich den Namen wieder vergessen habe (oder verdrängt? Aus Angst?). Auf jeden Fall soll die totalst brennen, aber sehr gut helfen. Alles Präventivmaßnahmen. Hnmmmmm eigentlich bin ich bei den 32 Kilometern auch gut ohne all das ausgekommen. Aber die letzten paar Kilometer sind nunmal auch sehr entscheidend. Und die habe ich ja noch nicht erlebt. Vorbeugen kann ja nicht schaden…

Außerdem habe ich mich jetzt entschlossen, die Laufstrecke tatsächlich mal mit dem Rad abzufahren. Damit ich weiß, was für Straßenbeläge so auf mich warten, wie viele Steigungen kommen und damit ich weiß, wo die letzte Kurve ist, bevor ich geradewegs auf der Zielgeraden bin… Huiiiii… bei dieser Vorstellung kriege ich direkt Herzhüpfen!

Heute gehe ich wieder laufen. Irgendwas zwischen zehn und 15 Kilometern. Und ich mache ein bisschen Beinkraft. Rückwärts laufen, Treppen und Trippelläufe. Und das alles auf einer ganz besonderen Strecke. Und zwar da, wo alles begann. Wo ich das erste Mal bewusst und alleine joggen gegangen bin. Ich wollte damals abnehmen. Wie so viele Mädchen mit 15 Jahren. Ich war allerdings gänzlich unsportlich und von richtigem joggen konnte auch noch nicht ansatzweise die Rede sein. Ich bin ungefähr alle fünf Meter gegangen. Dann hab ich mit meiner kaum vorhandenen Puste wieder ein paar Laufschritte geschafft, dann musste ich wieder gehen. Gut, dass mich außer ein paar widerkäuenden Kühen niemand gesehen hat. Die Strecke führt durch unsere Felder am Stadtrand und ist etwa sechs Kilometer lang. Vorbei an Bauernhöfen, Ackern, Wiesen. Aber keine Menschenseele. Ich glaube, ich hab damals um die eineinhalb Stunden gebraucht. Und war danach am Ende. Hätte mir da jemand gesagt, dass ich mal freiwillig 42,195 Kilometer laufen würde, hätte ich vor Atemnot wahrscheinlich noch nicht einmal lachen können. Sich quälen und dafür auch was latzen? Für solch eine kranke Spezie von Mensch hatte ich keinen Funken Verständnis. Gibt es nichts wichtigeres, als sich um sein Aussehen zu kümmern und anderen zeigen zu wollen, was für ein toller Hecht man ist? Hungernden Kindern in Afrika helfen, zum Beispiel? Oder der Oma von nebenan?

Heute weiß ich, dass ein Marathon – zumindest bei mir – nichts mit Eitelkeit zu tun hat (oder haben muss). Es ist einfach der Spaß eine Herausforderung zu bestehen, einen guten Deal mit seinem Körper einzugehen. Nach dem Motto „du hilfst mir und ich helfe dir“, deine Beine laufen für mich 42,195 Kilometer und von mir gibts im Gegenzug köstliche Säfte, gesunde Leckerbissen, viel Ruhe und hohe Anerkennung bis ans Lebensende. Mein Körper ist ein ganz netter, wir verstehen uns gut. Ich weiß wie er tickt, er weiß wann er mich auch mal treten muss. Wir sind ein wirklich gutes Team. Eigentlich laufe ich ja dann gar nicht alleine. Praktisch. Mal gucken, wer schneller ins Ziel kommt…

Übrigens hatte der Freund gestern Abend noch eine gute Idee. Von Kilometer 36-38 ist ein Freund von ihm mitgelaufen. Einfach vom Straßenrand dazu gekommen und nochmal Mut gemacht, ein bisschen Traubenzucker und das Getränk mit den Flügeln verabreicht und den Lauf kurzzeitig extrem unterstützt. Die Strecke ist ja meist nur an Hauptstraßen und in einigen Kurven abgeriegelt. Nadine? Bock?