Noch 27,195 Tage

Anita Horn Mein Marathon

Ich habe sie geschafft! Die 30 Kilometer. Und sie mich!

Genau genommen waren es sogar über 30 Kilometer. Und zwar 32,195 km – das sind exakt zehn bis zur kompletten Marathondistanz! Aber noch zehn Kilometer? Bei den Schmerzen? Wie soll das bitte gehen?

Ich glaube, ich bin unter guten Bedingungen gestartet. Ausgeschlafen, super Temperatur, ein paar Wolken. Die ersten zwei Kilometer hat Petrus sogar direkt mit einem fetten Schauer gesegnet. Aber ich habe zuviel gefrühstückt. Fataler Fehler. Ich dachte nämlich, nach dem Krafttraining am Samstag und der Strecke, die vor mir liegt, können zwei Scheiben Brot statt sonst nur einer nicht schaden. Verarscht. Das Essen liegt mir die gesamte erste Stunde arg schwer im Magen. Was lerne ich daraus? Ich werde sowohl am Abend vor dem Marathon, als auch an Tag X nichts anders machen als sonst. Ich werde mir vorher nicht drei Tonnen Pasta reinschnabulieren. Und ich werde auch nicht für eine Kleinfamilie auf Durchfahrt frühstücken. Ich werde so tun, als wäre der Marathon nichts besonderes. Ich werde einfach loslaufen, so wie ich es vor den 30 Kilometern auch getan habe.

Im Doppelpack nur halb so schlimm

Im Doppelpack nur halb so schlimm

Der Unterschied wird sein, dass beim Marathon keine Nadine neben mir herradeln wird. Leider. Hatte ich mal gesagt, dass ich es gar nicht so schlimm finde, alleine zu laufen? Ich nehme das zurück. Nadine müsste auch nicht laufen. Einfach dabei sein, Fahrrad, Cabrio, egal. Wäre sie bei diesem Testlauf nicht dabei gewesen, hätte ich die 32 Kilometer nicht gepackt – zumindest nicht so gut. Ich finde, ich hab mich gut geschlagen. 3h 2min 38sek. Könnte man diese Zeit für den Marathon einfach hochrechnen, hieße das, dass ich die 42,195 km in rund vier Stunden schaffen könnte. Aber dieser Gedanke ist beknackt. Hochrechnen läuft nicht. Mir reicht es weiterhin ankommen. Wobei, 4h 30min wären schon toll, nach diesem langen Trainingslauf habe ich ein kleines Zeitziel geschnuppert.

Und einen Hauch Wettkampf-Feeling konnte ich auch noch gratis mitnehmen. Der Plan ist eigentlich, am Dom entlang, Hohenzollernbrücke, dann in Deutz auf der Schäl Sick bis Niederzündorf zum Hafen. Aber es ist alles abgesperrt. Triathlon. Verdammt. Also ein paar Extrameter, ein paar kleine Schlenker und Miniumwege, zweimal die Uhr gestoppt, weil ich nicht vorwärts komme und Nadine beim Fahrrad-die-Treppen-Runtertragen helfe. Sie hilft mir schließlich über eine verdammt lange Distanz.  Als wir dann Richtung Severinsbrücke kommen, geht´s etwas fließender wieder. Ich frage nur noch schnell einen Helfer am Straßenrand, ob die Brücke wegen des Triathlons gesperrt ist. Schließlich will ich hier keine Steigung laufen, um dann festzustellen, dass wir auf der anderen Seite nicht wieder runterkommen. Ganz lustig war die Reaktion des Helfers. Er guckte ganz irritert, als wollte er fragen: Was zum Teufel machst du hinter der Absperrung und wieso läufst du nicht die abgesteckte Triathlonstrecke?! Ich hab´s ihm von den Augen abgelesen und meinte direkt: Keine Sorge, ich laufe den Triathlon nicht mit. Das scheint ihn zu beruhigen. Die Brücke ist offen. Also Spurt und hoch dafür.

Ab jetzt wird´s entspannter. Am Rheinufer ist so gut wie nichts los. Nadine und ich müssen keine Haken schlagen und zusehen, wie wir vorwärts kommen. Jetzt ist Zeit, die Zeit totzuschlagen und zu quatschen, was das Zeug hält. Scheint ein gutes Tempo zu sein. Ich kann mich sogar noch unterhalten. Klar, mit ein paar Atempausen. Aber es geht. Mal eben nachgeschaut. Pace 5:40. Ganz gut für die Strecke! Irgendwann kann ich aber nicht mehr plaudern. Mir gehen der Gesprächsstoff und der Sprit aus. Ich muss gut haushalten. Irgendwann kommt der erste Durst. Trinkpause. Mit kurzem Stopp, einmal dehnen. Weiter geht´s. Da hinten kündigt sich schon die Kurve an, die ich mir vorher im Internet als Ziel ausgesucht habe. Hinter der Kurve geht´s Richtung Bonn. Das Ziel ist der Hafen. Ich kann die Boote schon sehen, wie Ameisen auf dem Wasser. Klitzeklein. Und das nicht ohne Grund. Dieser Streckenabschnitt zieht sich wie Kaugummi! Mein hinterer, rechter Oberschenkel fängt an aufzumucken. Nur ein bisschen. Erträglich. Aber lästig. Ich hab mein erstes kleines Motivationstief. Nadine merkt das sofort, erzählt mir was. Hab´s schon wieder vergessen, aber es hat geholfen. Der Hafen. Endlich. Trinkpause. Dehnen. Nicht zu lange stehen bleiben.

Wieder in den Tritt zu kommen ist gar nicht so leicht. Vor allem wenn man eine Strecke hin und identisch zurück läuft. Im Kreis laufen ist besser. So weiß ich leider genau, was auf mich zukommt. Egal. Tempo halten. Jetzt ist es ja nur noch die Hälfte. Meine Waden spielen Stein. Und mein Oberschenkel schreit nach einer heißen Badewanne. Statt dessen kriegt er einen Schluck Power-Gel mit ordentlich Wassernachschub und eine Banane. Die muss ich mir zwar runterwürgen, aber besser ist das.

In dem Moment sagt Nadine, gleich hast du es geschafft, gleich gibt´s Pasta. Da dreht sich mir der Magen. Komisch, an richtiges Essen kann ich gerade nur schwerlich denken. Ich bin froh, dass mein Körper sich auf´s Laufen konzentriert. Oh, lustig. Ich katapultiere mein linkes Bein auf die Sitzbank, um zu dehnen, da sehe ich das Schild darauf . „Werkbank Fix und Fertig“.

Wie passend. Nein, ich bin nicht fix und fertig. Positiv denken. Weitermachen. Das ist schon der Rückweg. Nach gefühlten drei Kilometern später wollen meine Beine spontan nichts mehr machen. Ich lasse Nadine daran teilhaben und sag, dass ich nicht mehr mag. Aber ich habe keine Chance. Sie macht mir, als würden wir diesen Streckenabschnitt täglich üben, genau die richtigen Komplimente, macht mir Mut, spricht mir gut zu, ich schaff das, ich bin top in Form, ich halte ein super Tempo, gleich sind wir Zuhause. Ok. Couch, ich komme! Da vorne sehe ich schon wieder die Severinsbrücke. Scheiße, da soll ich jetzt hoch? Wir dürften jetzt etwa bei Kilometer 26 sein. Und da eine Steigung? Wer hat sich den Mist denn ausgedacht? Ok, wenn´s sein muss. Rauf da.

Zweites Mal die Brücke

Zweites Mal die Brücke

Ein Opi auf dem Fahrrad sagt: Schwer, was? Eine Dreiergruppe Jungs guckt mich mitleidig an. Ein anderes Trainingspaar (er läuft, sie fährt Rad) nickt uns aufmunternd zu. Brücke geschafft, wir sind oben. Pause! Power-Gel, trinken, dehnen. Ich will ins Wasser springen. Ich kann nicht mehr. Wieso mache ich das überhaupt? Auf der anderen Straßenseite kämpfen sich noch ein paar einsame Triathleten ab. Wie kommt man auf die Idee, einen richtigen, echten Triathlon zu machen? Marathon + Schwimmen + Radfahren. Verrückt sind die!

Humpelstilzchen läuft daheim

Wir umgehen die abgesperrte Strecke zwischen Hohenzollern- und Severinsbrücke und laufen einfach durch die Fußgängerzone. Sonntag Nachmittag. Ein paar Bummler sind unterwegs. Der Weg ist weitest gehend frei. Leute, ich laufe gerade die letzten fünf Kilometer von 32!!! Nur deshalb schnaube ich so, sehe so gequält aus und stinke wie ein Iltis. Platz da, ich will vorbei! Ich will nach Hause, meine Beine hochlegen. Viertel nach sechs zeigt die große Uhr da an. Wahnsinn. Ich hab zwar meine Pulsuhr im Blick, aber da steht nur meine zurück gelegte Zeit. Die echte Uhrzeit habe ich gar nicht auf der Kette. Um halb vier sind wir losgedüst. Wahnsinn. So lange laufen am Stück. Jetzt ein paar Mal Zickzack, dann sind wir auf der Zielgeraden. Rote Ampel. Mist. Egal, kein Auto in Sicht, ich laufe weiter und überlege mir auf der  Insel doch zu warten, bis grün wird. Zumindest deutet das plötzlich vorbei fahrende Polizeiauto an, dass das besser für mich wäre. Glück gehabt. Das wär´s ja noch. Zeit verhunzt wegen Polizeigedöns. Danke, grüne Männchen. Ich tu´s ja für einen guten Zweck (welchen, das überlege ich mir noch…).

Die letzten drei Kilometer. Das kann ich recht genau sagen. Wir laufen an meiner Arbeitsstelle vorbei. Meine Beine schmerzen. Meine Lunge fänd einen gemächlichen Spaziergang langsam auch interessanter als dieses Abgehetze hier. Aber ich halte das Tempo. Vorletzte Kreuzung vor meiner Haustür. Wumm! Es schießt ein Blitz durch meinen hinteren Oberschenkel, ich stolpere kurz, krümme mich, dann muss ich aufhören zu laufen. Als wäre etwas gerissen. Verdammte Hacke, aua! Was war das denn? Ist wohl eine Mischung aus dieser eintönigen Bewegung und dem Krafttraining am Vortag. Einbeinige Beinpresse mit 61 Kilo. Hm. Mach ich vielleicht nächstes Mal nicht unmittelbar vor so einem langen Lauf. Ok, ich gehe bis zur Ampel, dann versuche ich nochmal langsam loszutraben. Geht einigermaßen. Aber wenn sowas bei Kilometer 30 beim Marathon passiert, wäre das fatal! Zehn Kilometer mit richtig fiesen Schmerzen laufen? Das geht niemals! Müsste ich dann abbrechen? Würde ich das tun? Oder würde ich mich durchbeißen, egal wie? Ich könnte so knapp vor dem Ziel nicht aufgeben. Als ich diesen Gedanken fertig gedacht habe, merke ich, dass ich schon wieder laufe. Nicht mehr ganz so schnell, wie mein sonst durchgängig ordentliches Tempo. Aber ich laufe, ich gehe nicht nur. Letzte Ampel. Meine Arme tun mittlerweile fast mehr als meine Beine. Ich stoppe die Uhr. Und laufe aus.

Geschafft! Zuhause! Wow!

Geschafft! Zuhause! Wow!

Was? Das war´s? Fertig? 32,195 Kilometer? Ich fasse es nicht! Mir geht´s eigentlich ganz gut. Naja, den Umständen entsprechend. Nadine auch. Außer, dass sie schon im Stehen die restlichen Meter auf dem Rad zurück legt. Der Sattel scheint nicht mehr so gemütlich zu sein nach drei Stunden. Zusammen kommen wir in meine Straße ein. Wow, bin ich fertig. Die Treppen in die zweite Etage sind die Hölle. Egal. Die schaffe ich auch noch. Oben angekommen will ich Nadine am liebsten umarmen, mich bedanken für ihre treuen Dienste, ihre Hilfe, ihre investierte Zeit! Aber das verschiebe ich lieber auf nach dem Duschen. Das warme Wasser tut gut. Ich krabbel aus der Wanne und gehe zurück in die Küche. Nadine schnibbelt schon Gemüse. Dazu gibt´s Tortellini und Hähnchenbrust. Wir lachen, dass wir beide etwas geschafft sind. Dann schießen mir tatsächlich ein paar Freuddentränchen in die Augen. 1000 Dank, Nadine! Ohne deine Hilfe wäre das nicht so gut gelaufen. Ich bin gelaufen. Die längste Strecke meines Lebens, nur mit meinen Füßen. Wow. Noch 27,195 Tage…

Und hier Nadines Marathon-Mitmach-Blog:

Mir tut der Hintern weh! So. Leider darf ich das gar nicht so laut sagen. Immerhin ist dieses zarte Persönchen neben mir eben die 32 Kilometer, die ich geradelt bin, gelaufen!!! Mit den Füßen! Und den Beinen! Unfassbar. Anita läuft in genau einem Monat ihren Marathon und wenn ich schon nicht mitlaufen kann, dann will ich sie wenigstens unterstützen. So verspreche ich also, dass ich die 30 Kilometer lange Vorbereitungsrunde mitkomme.

Das Versorgungsbike - meine Rettung!

Das Versorgungsbike – meine Rettung!

Aber bitteschön mit dem Rad. Wir packen also das Körbchen des Versorgungsbikes voll mit Wasserflaschen, Bananen und Regenjacken und machen uns auf den Weg quer durch die Stadt am Dom vorbei und treffen schon auf die ersten Probleme – die Triathleten. Die von uns auserkorene Strecke am Rhein entlang ist auf einigen Metern gesperrt. Anita kann dort schon mal Wettkampfstimmung schnuppern und ich darf mein Rad die Treppen am Dom runterschleppen. Anita packt mit an – die hat Nerven! Ich würd mir ja in die Hose machen, wenn ich noch weitere 28 km vor der Brust hätte! Aber nicht Anita. Die schäkert mit den Typen mit gelben Warnwesten, die die Strecke bewachen, läuft locker und lässig an den abgekämpften Triathleten vorbei und lässt sich von der Planänderung nicht beirren. Dann nehmen wir halt die Severinsbrücke an Stelle der Hohenzollern… die ist ja auch nur ein bisschen steiler. Gut gelaunt fliegt sie also neben mir her. Und das in einem Tempo, das mir als Freizeitläuferin Sorgen macht. Wenn sie sich da mal nicht übernimmt – denke ich noch als ich einen kleinen Stopp einlege um ein paar Leute durch zu lassen… und schon ist sie um die nächste Ecke verschwunden und ich muss echt Gas geben um hinterher zu kommen. Wär sie nicht in ihrem unverkennbaren pinken Laufdress unterwegs, ich hätt sie auf den ersten zehn Kilometern allein fast drei mal verloren.

Aller Anfang fällt leicht...

Aller Anfang fällt leicht…

Von hier an schlängelt sich unsere Strecke wunderschön am Rhein entlang und wir machen, was Mädels so machen. Wir quatschen. Zwischenzeitlich vergesse ich glatt, dass Anita läuft und ich radle. Sie ist echt top in Form und kaum außer Atem. Aber natürlich bleibt das nicht so. Anita ist ja auch nur ein Mensch. Der Plan ist, bis nach Zündorf zu laufen und dann um zu kehren. Wir können den Yachthafen schon sehen, aber die Außenkurve des Rheins zieht sich so endlos lang hin, dass Anita immer stiller wird. So langsam sieht man es ihr an. Das Gesicht hat mittlerweile eine leichte Röte bekommen und ich frage mich, ob ich mit ihr reden soll um die von der Strecke abzulenken oder ob ich sie mal kurz in Ruhe lasse. Ich entscheide mich für letzteres bis wir am ersten Etappenziel ankommen. Pause, dehnen, Wasser trinken, verschnaufen… weiter! Die Pause hat ihr gut getan, sie ist wieder etwas gesprächiger und ich nutze die Zeit sie einfach zu zu texten. Hauptsache nicht an die Strecke denken und an das, was noch vor uns liegt: weitere 15 Kilometer! Ich hab die Zeit kaum gemerkt. Wahnsinn, dass wir schon mehr als anderthalb Stunden unterwegs sind. Aber ich sitze ja auch auf dem Rad. Und ganz ehrlich – das ist nicht unanstrengend. Wie muss es dann erst Anita gehen!

Und man merkt es ihr immer mehr an. Die Strecke zerrt an ihr. Die Schmerzen in ihrem hinteren Oberschenkel werden stärker. Sie wird immer stiller. Der Weg zieht sich. Und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Also sag ich ihr, was ich denke. Dass ich es total krass finde, was sie hier gerade leistet! Sie ist wirklich in der Form ihres Lebens und läuft gerade die längste Strecke, die ihre Beine sie jemals am Stück getragen haben. Und das auch noch in einem stetig gleich bleibenden Tempo, dass sich echt sehen lassen kann.

Die Motivation wirkt, wir kommen gut voran. Um die nächste Biegung und wir können schon den Dom wieder sehen. Nicht mehr weit sage ich ihr – und denke dabei Gott sei dank! Mir schmerzt nämlich der Hintern. Aber das will ich nicht zugeben, die lacht mich ja sonst aus! Jetzt über die Brücke zurück, ein echter Kampf. Oben angekommen noch schnell eine Trinkpause (zum Glück hab ich noch eine zusätzliche Flasche eingepackt) und dann geht´s auf die letzten sechs Kilometer – grob geschätzt. Wir kommen ohne nennenswerte Hindernisse voran. Bis Anita plötzlich laut aufschreit und stehen bleibt. Der hintere Oberschenkelmuskel. Pam! Wir sind noch zwei Straßen von Zuhause entfernt und ich überlege mir, ob ich Anita mein Rad anbieten soll. Aber sie kämpft sich weiter. Bis nach Hause.

Alles in allem eine krasse Leistung! Ich bin super stolz auf Anita – und auch ein bisschen froh, dass eine Knieverletzung mich dazu gebracht hat, dass ich heute nicht selbst mitgelaufen, sondern nur nebenher geradelt bin. Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte. Nach drei Stunden auf dem Rad bin ich schon ein bisschen müde – und ich sage es nochmal: mein Hintern schmerzt! Aber das ist vergessen, als ich Anita sehe, die froh ist, dass sie nicht alleine laufen musste.